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Der Votansberg




LAZARUS GITSCHNERS AUFENTHALT IM VERWUNSCHENEN BERG

Lazarus Aigner
Im Jahre 1529 stand Lazarus Aigner*, aus Bergheim bei Salzburg gebürtig, bei dem Herrn Stadtschreiber zu Reichenhall in Diensten. Da fügte es sich einstmals, daß Aigner mit seinem Herrn, dem Pfarrer Martin Elbenberger und dem Pfleger den Untersberg bestieg. Unterhalb des Hochthrons fanden sie eine Art Felsenkapelle. Allda war in die Wand eine Schrift mit silbernen Buchstaben eingehauen, welche sie lange anschauten und lasen, ohne indes deren Sinn und Inhalt enträtseln zu können.
Als sie wieder zu Hause angekommen waren, wollte dem Herrn Pfarrer die rätselhafte Inschrift nicht aus dem Kopfe, und er bat des Stadtschreibers Knecht, Lazarus, nochmals auf den Untersberg zu gehen und die Schrift abzuschreiben.
Lazarus tat, wie ihm geheißen. Glücklich erreichte der die Stelle, fand auch die Schrift noch vor und schrieb sie genau ab, wie folgt:

S. 0. R. G. E. I, S. A. T. 0. M. **

Indes war es Abend geworden, Lazarus überlegte, ob er bei eingebrochener Dunkelheit noch den Berg hinabsteigen oder besser auf demselben übernachten sollte. Er entschied sich für das Letztere. Das war Mittwoch Abends. Er schlief die Nacht sehr gut, stand am Donnerstag Morgens neu gestärkt auf und trat den Heimweg an. Eine Weile war vergangen, als plötzlich zu seinem nicht geringem Erstaunen ein barfüßiger Mönch vor ihm stand. Er trug einen großen Bund Schlüssel und betete andächtig aus einem Gebetbuche. Jetzt sprach er zu Lazarus:
*Auch Lazarus Gitschner genannt ** Nach einer anderen Version auch: S. V. R. G. E. T. S. A. T. U. M.
Lazarus trat ohne Furcht durch dieselbe. Da sprach der Mönch also: «Lege Denen Hut allda nieder, so kannst Du wieder hinaus; und so du herinnen sein wirst, so sprich zu Niemandem ein Wort, es sage Einer zu Dir, was er wolle. Mit mir aber darfst Du reden und mich alles fragen. Merke auch wohl, was Du siehst und hörst." Nach diesen Worten schritten Beide durch das Tor. Da sah Lazarus einen großen Turm mit einer goldenen Uhr geziert. Der Mönch sagte zu ihm: «Schau an die Uhr, auf welcher Stunde der Zeiger steht und um welche Stunde es ist". Und es war sieben Uhr. Weiter stand ein schönes Gebäude mit doppeltem Glockenturm, einem ansehnlichen Kloster ähnlich, in üppig grünender Wiese. Ein dunkler Tannenwald umrahmte die letztere und ein monumentaler Brunnen spendete aus zwei Rohren frisches, erquickendes Quellwasser. Auf der Wiese standen Obstbäume voll der seltensten Früchte.
Lazarus trat mit dem Mönch in das Gebäude und gelangte in eine Kirche, die war so groß, daß er von der hinteren Kirchentüre auf kaum auf den Chor sehen konnte. Der Mönch führte ihn vor bis zum Hochaltar, hieß ihn da zum Gebete niederzuknien und tat desgleichen. Hierauf geleitete er ihn zu einem Kirchenstuhl und sprach: «Bleibe da, Lazarus, bis ich wieder zu Dir komme und dich hinwegführe. Beschaue Dir wohl alles gar wohl; denn diese Kirche hat mehr als zweihundert Altäre und über dreißig Orgeln, ohne die zahlreichen anderen Musikinstrumente". Und Lazarus tat, wie ihm geheißen. Nicht lange währte es, so kamen über eine große breite Stiege in seiner Nähe alte und junge Mönche, mehr denn dreihundert Paare, alle mit hölzernen Schuhen. Sie schauten ihn gar ernst an im Vorbeigehen, sprachen aber kein Wort, sondern verfügten sich vor zum Chor, wo sie mit großer andacht die Hora sangen, gleich wie dies auch in der Domkirche zu Salzburg zu geschehen pflegt. Darauf hüben alle Glocken zu läuten an und in unzählbar großen Scharen strömte Volk beiderlei Geschlechtes, gar schön gekleidet, in die Kirche. Auf allen Altären wurde Messe gelesen und am Hochaltar ein feierliches Hochamt zelebriert. Alle Orgeln begannen zu spielen und so herrlich wurde ; gesungen, daß Lazarus sich in den Himmel versetzt wähnte, so schön und lieblich kam es ihm vor.
Als der Gottesdienst vorüber war, verließ alles Volk die Kirche und die Mönche gingen dieselbe Stiege wieder hinauf, die sie früher heruntergekommen waren. Um 12 Uhr kam der Mönch und rührte Lazarus über die mehrgenannte Stiege, die achtzig Stufen zählte, in eine große Vorhalle, die zu beiden Seiten große, unverglaste Fenster zeigte. Durch dieselben konnte man auf die bereits erwähnte herrliche Wiese hinabschauen. Von dieser Vorhalle gelangten sie in den Convent, einen großen, hochgewölbten Saal mit vielen Fenstern wohl vermacht. Lange Tische standen daselbst und an einen kam Lazarus zu sitzen. «Da bleib jetzt, mein Lazarus" - sprach der Mönch - "Ich will dir jetzt zu essen und zu trinken geben". Und derweil er darum ging, sah Lazarus zum Fenster hinab und erblickte eine große Menge Volkes, die von einem Wald zum anderen ging. Nicht lange, so kam der Mönch wieder zurück und brachte ihm das Essen, bestehend aus Fleisch, Kraut und Gerste, nebst einem Laib Brot und einem Mäßlein Wein. Nach beendeter Mahlzeit und nachdem das Tischgebet gesprochen war, führte der Mönch den Aigner in die Bibliothek, deren Wände angefüllt waren mit Büchern in Baumrinde und Schweinsleder gebunden. Von da aus blickte Lazarus wieder ins Freie und sah viele Bischöfe und Herren in prachtvollen Gewändern, Frauen und Jungfrauen. Und da er fragte, wer dieselben wären, so sagte der Mönch: «Es sind alte Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe, Ritter, Herren und Knechte, Edel und Unedelgeborene, Frauen voll Frömmigkeit und Herzensgüte, wie überhaupt nur gute Christen, welche den christlichen Glauben in der letzten Zeit des Bestandes der Welt erretten und verteidigen werden".
Darauf zeigte er ihm die Bücher und las ihm daraus vor. Lazarus fand in denselben auch die rätselhafte Inschrift, die er sich für den Pfarrer abgeschrieben hatte. Der Mönch las sie ihm auch vor, allein verstehen konnte er's nicht, da sie in lateinischer Sprache verfaßt war.
So kam die Vesperzeit heran. Glockengeläute rief die Andächtigen zur Kirche. Auch die Beiden gingen hin und beteten mit großer Andacht. Nach der Vesper erhielt Lazarus wieder Speise und Trank. Nach der Complet, die dem Abendbrot folgte, versammelten sich die Mönche, jeder mit einem großen Buche, an dem ein Laternchen befestigt war, und zogen paarweise nach dem großen Turm, in welchen Lazarus bei seinem Eintritt in den Untersberg gekommen war. Zu beiden Seiten in dem selben gab es sechs, zusammen also zwölf Türen.
«Durch diese Türen gelangt man" - so sprach der Mönch zu Lazarus - «in die Domkirche zu Salzburg, in die Kirche nach Reichenhall, nach Feldkirch in Tirol, nach Gmain, nach Seekirchen, nach St. Maximilien, nach St. Michael, nach St. Peter und Paul bei Hall, nach St. Zeno, nach Traunstein gegen Egg, nach St. Dionysien und St. Bartholomä am Königssee".
Diese Nacht gingen sie nach St. Bartholomä, ein schöner gewölbter Gang, so breit daß ihrer Drei und Drei nebeneinander gehen konnten, führte dahin. Als sie schon ein Stück des Weges zurückgelegt, sagte der Mönch zu Lazarus: «Jetzt gehen wir tief unter dem Königssee !" - Gegen Mitternacht kamen sie in der Kirche zu St. Bartholomä und sangen da die Mette. Nach derselben kehrten sie laudos, wie gekommen, wieder in den Untersberg zurück, wo sie eben recht zur Prim (6 Uhr Morgens) angelangten. In der nächsten Nacht gingen sie in die Domkirche nach Salzburg. Da währen sie indes bald vom Messner überrascht worden, wenn sie nicht rasch durch die hintere Türe und die sich öffnenden Türchen in den Mauern hinausgekommen wären.
In den folgenden fünf Nächten wiederholten sich diese Kirchgänge, doch galt der Besuch jedes Mal einer anderen Kirche.
Am letzten Tage rührte der Mönch den Lazarus wieder in die Bibliothek und las ihm aus den großen Büchern von alten Geschichten und Weissagungen vor, wie dermaleinst Krieg, Hungersnot, Pestilenz und andere furchtbare Übel in der Welt herrschen werden. Während sie so sprachen und zum Fenster hinausblickten, sahen sie just den Kaiser, wie er mit dem Volke gar leutselig verkehrte. Sein Haupt zierte eine goldene Krone und in seiner Rechten trug er das kaiserliche Zepter; sein grauer Bart reichte ihm bis zum Gürtel. Der Mönch sagte zu Lazarus: «Der Kaiser, der dort geht, ist Kaiser Friedrich, welcher einst auf dem Waiser Felde verzückt wurde. Schau Dir ihn wohl an, denn er trägt noch das nämliche Gewand, wie damals, als er von der Erde verschwand". Weiter sah Lazarus noch andere Fürsten und Herren, als den Herzog Albrecht von Bayern und seine Hausfrau, den Erzbischof zu Salzburg, Leonhard von Keutschach, den Prälaten von St. Peter, den Stiftspropst von St. Zeno, den Probst von Berchtesgaden und viele andere mehr, welche er zu ihren Lebzeitenwohl gekannt hatte. Von der Neugierde getrieben, fragte der den Mönch, was diese wohl machen und was ihr Tun und Lassen sei? Da kam er aber übel weg, denn die nächsten Augenblicke hätte er für seine vorlaute Frage einen so derben Backenstreich, daß er ihn Zeit seines Lebens verspürte, und zornig fuhr ihn der Mönch an: «Es geziemt Dir nicht, nach den Geheimnissen Gottes zu forschen!"Am siebenten Tage jenes Aufenthaltes im Untersberg sagt der Mönch zu Lazarus, nachdem, sie von der Kirche zu Unserer lieben Frau auf der Gmain nach Hause gekommen waren: «Lazarus, nun ist es Zeit daß Du wieder hinausgehest; oder willst du herinnen verbleiben, so magst Du es auch tun". Doch jener meinte, ihn verlange nach der Heimat; der Mönch gab ihm hierauf noch zwei Laib Brot mit auf den Weg und sagte: «Solches iß im Heimgehen und sei hinfüro fein demütig, derweil du lebest". Hernach führte er ihn zur Tür, durch welche er gekommen. Als Lazarus auf Verlangen seines Begleiters die Uhr schaute, zeigte der Zeiger genau dieselbe Stunde wie er gekommen - 7 Uhr.
Wieder auf der Außenwelt angelangt, sprach der Mönch zum letzten Mal zu Lazarus: «Schau, mein Lazarus, daß Du Deine Erlebnisse im Untersberge Niemandem mitteilst, ehe 35 Jahre verstrichen, wenn Dir Dein Leben lieb ist. Vergiß nicht, was Du gesehen und gehört hast. Wenn die Zeit von 35 Jahren vorüber, so magst Du es offenbaren; denn es wird hernach große Not und Gott dem Allmächtigen viel abzubitten sein. Daß es aber auch Alles dann Kundbar werde, was Dir begegnet, beschreib alles genau und behalte es fleißig bei Dir". Und weiter sprach er: «Es werden sich gefährliche Zeiten in der Welt zutragen; aber Diejenigen, welche an Gott glauben und auf ihn fest vertrauen, werden von allen Greueln, Übeln und Beschwerden befreit sein. Nun gehe hin im Namen des Friedens, dereinst wirst Du wieder zu mir kommen". Dann verschwand der Mönch und Lazarus trat den Rückweg nach Reichenhall an.
Zu Hause angekommen, wurde er mit Fragen von allen Seiten bestürmt. Er schwieg und erzählte nicht ein Wort von dem, was er gesehen und erlebt.

Genau 35 Jahre nach dieser Begebenheit starb er, fromm und stark im Glauben, wie er gelebt. An Totenbette übergab er seinem Sohne die Aufschreibung und dieser teilte sie der Welt mit.


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